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"...es sei denn, daß er einen Weg für sie bereite,
damit sie das ausführen können..."

Schwester Renate Ritter

(aus der Zusammenstellung von Manfred Schütze, "Was Du ererbt von Deinen Vätern. . .")

63-jährig ist sie jetzt, Schwester Renate Ritter in Groitzsch. Hinter ihr liegt ein opfer- und arbeitsreiches Leben zum Wohle und im Dienst ihrer Mitmenschen.

Sie kommt aus einer kleinen Stadt, ca. 30 km südlich von Leipzig, die bisher in dem Bewußtsein der Kirche wohl unbekannt geblieben wäre, hätte es nicht dort vor Jahrzehnten eine tüchtige Mormonenfamilie, die Böhmes, gegeben, Eltern und Kinder, deren Einfluß bis heute nun schon über Generationen spürbar ist und durch die wir die Namen der Bauerfeinds, Hachenbergers, Ritters, Sickels, Winklers u.a. in der ganzen Region kennen.

Begonnen hat es mit einem Schullehrer, der mit seiner Frau Mitglied der Kirche wurde. Leipzig war die nächste Gemeinde. Dort besuchte er die Versammlungen - mit seinen Kindern. Das bedeutete, sonntags 6.30 Uhr loszugehen, eine lange Bahnfahrt und Anmarschwege auf sich zu nehmen. Später blieb die Tochter Renate, um abends am GFV teilzunehmen, oft über Nacht bei einer Freundin und fuhr morgens von Leipzig zurück und ging vom Bahnhof direkt zur Schule.

Als sie im sogenannten Landjahr in der Nähe von Eilenburg sein mußte und nur einmal monatlich sonntags freibekam, fuhr sie nicht nach Hause, "sondern traf sich mit ihrer Familie in der Gemeinde, wohin die Eltern auch frische Sachen mitbrachten. Keine Frage, daß dies aus der großen Liebe für das Evangelium resultierte, die durch die Erziehung seitens der Eltern geweckt worden war.

So war es auch nicht verwunderlich, daß sie nicht den Sohn des Rittergutsbesitzers geheiratet hat, der sich zu jener Zeit um sie bemühte. "Ein Mitglied der Kirche - mein Wolfgang war mir lieber." Er war zwar auch ein Ritter, aber nur dem Familiennamen nach. Daß er gleiche Lebensideale hatte, war ihr wichtiger als Geld und großer Besitz.

Die Gelegenheit, den Propheten Heber J. Grant 1938 in Berlin erlebt zu haben, hatte sie in dem Wunsch bestärkt, dem Evangelium die Treue zu halten. "Die Posaune schallt zum letzten Mal" - war das Motto jener Konferenz. "Ich war damals zutiefst gerührt in meiner Seele - noch heute kann ich mich meiner Tränen nicht erwehren, wenn ich an dieses wunderbare Erlebnis denke. In Dankbarkeit erkannte ich, welch großer Segen es für uns war, zu dieser Kirche zu gehören."

Bald danach wurden alle Missionare abberufen, der zweite Weltkrieg brach aus.

Wie bestimmend der segensreiche Einfluß der Eltern in den Jugendjahren war, wird erkennbar, wenn man Schwester Ritters Lebensweg in den folgenden Jahrzehnten betrachtet.

6. Januar 1946. Die Familie hat den Krieg überlebt. Der Vater hat als ehemaliger Schuldirektor keine berufliche Existenz, er ist zunächst arbeitslos. Der Bruder Walter kommt mittellos aus dem Krieg zurück - und erhält einen Ruf auf Mission. Die Schwester hat am selben Tag ihre Ausbildung beendet. Sofort gibt sie von ihrem Verdienst dem Bruder Unterstützung. "So half der Herr und führte wunderbar." (Welchen guten Missionarsdienst Bruder Walter Böhme in Mecklenburg leistete, ist an anderer Stelle bereits beschrieben worden.)

Als Schwester Ritter zog Renate nach Leipzig, wo ihr Mann eine Wäscherei betrieb, gemeinsam mit seinem Vater. Bald hatte sie vier "Männer" zu versorgen, den Ehemann, den Schwiegervater und die beiden Söhne Roland und Lothar. "Ich liebte meinen Schwiegervater wie meinen Wolfgang und wie meine lieben Eltern - so ging alles mit Gottes Hilfe gut. Welch Segen, daß er dann auf unsere Kinder aufpaßte, wenn wir unsere Kirchentätigkeit ausübten oder in's Konzert oder Theater gingen. Dienstags war ich in der Primarvereinigung als Leiterin und Lehrerin tätig, donnerstags in der FHV als Lehrerin, und zwischendurch pendelte ich weiter nach Groitzsch."

Die enge Beziehung zur Heimatstadt, zur dort inzwischen angewachsenen Gemeinde und zu den Eltern, die mehr und mehr Hilfe benötigten, bewirkten das.

Noch immer waren die Böhmes das "Herz" der Mitglieder. Kirchen-versammlung in Groitzsch - das bedeutete, Gottesdienst im Wohnzimmer bei Böhmes, das bedeutete, sonntags morgens Ausräumen des Wohnzimmers, Bereitstellen der anderen Räume als Klassenzimmer und anschließend wieder einräumen. Und das über viele Jahre - denn an einen eigenen Kirchenraum war nicht zu denken. Oft hatte man sich bemüht, etwas zu bauen, anzubauen oder zu pachten - stets vergebens.

Bis Schwester Ritter - sicher als Folge des Fastens und Betens - eines Tages der richtige "Gedanke" kam. Sie wollte sich bemühen, auf dem großen Gartengrundstück der Eltern, unmittelbar hinter dem Hause, für den Schwiegervater ein Wochenendhäuschen zu bauen. Der Beantragung beim Stadtbauamt folgte der Besuch des Stadtbaudirektors im elterlichen Haus. Dort betrieb Schwester Böhme eine "Puppenklinik", wohin Sämtliche Kindereinrichtungen, wie Kindergärten, Krippen, Horte und auch Privatpersonen ihre kaputten Puppen zur Reparatur bringen konnten. Da sie über keine Geschäftsräume verfügte, mußte manches abgelagert werden, wo gerade Platz war. "Zufällig" waren an diesem Tage sehr viele Puppen zu Reparatur, und dadurch schien das ganze Haus von Puppen voll zu sein. "Sie haben ja ein Puppenhaus und kein Wohnhaus", war die erstaunte Reaktion des Besuchers. "Sie müssen eine Puppenklinik bauen." So führte der himmlische Vater. Als die Puppenklinik fertig war, hatte die Gemeinde ihre Räumlichkeiten. Inzwischen war es nämlich nicht mehr gestattet worden, Kirchenversammlungen in Privaträumen durchzuführen. So ergab es sich fast von selbst, daß die Behörden auf die im Bau befindliche Puppenklinik hinwiesen, als die Brüder fragten, wo sie sich nun versammeln sollten. Die Räume in den dem Kirchenstandard weitgehend entsprechenden Rahmen zu bringen, war jetzt "nur" noch eine Fleißarbeit. Viele Stunden hatten die Geschwister daran gearbeitet, bis sie im Mai 1977 ihren ersten Gottesdienst durchführen konnten.

Für die Ritters war Groitzsch inzwischen ihr Zuhause geworden. Der Schwiegervater in Leipzig war gestorben, auch die Mutter in Groitzsch.

Eine andere Arbeit wurde jetzt zum Schwerpunkt der Familie - die Genealogie. In Karl-Marx-Stadt kannte man einen Hobby-Archivar, der viele Stammbäume, Ahnentafeln und Familienchroni-ken gesammelt und zum Teil als Bücher hatte drucken lassen. Nach einigen Besuchen bei ihm kam Schwester Ritter auf der Heimfahrt immer wieder drängend in den Sinn, daß sie alle Namen von jenem Mann erkunden und tempelfertig machen müsse. "Ich habe oft darum gebetet, auch gefastet, daß ich zu den Büchern komme," Doch es gab Verzögerungen, bis eines Tages der Besitzer verstorben war. Die Witwe verkaufte daraufhin einen ganzen Waschkorb voll Bücher, Gerichtsakten, Ahnentafeln, Familienwappen usw. Zum "Glück" gingen sofort mehrere Geschwister daran, diese Urkunden auszuwerten und die Namen für den Tempel vorzubereiten. - Und das war gut so! Bei einer späteren Testamentseröffnung mußten alle Urkunden an ein Staats-Archiv abgetreten werden. Aber die Arbeit war getan und man kann die Urkunden noch heute einsehen. "So erhört der Himmlische Vater Gebete und erfüllt unsere Herzenswünsche"

Problem? Nein, Gelegenheit zum Dienen!

So überschreibt Schwester Renate Ritter den Teil ihrer Stichpunkte, den sie für mich als Gedankenstütze vorbereitet hatte, als ich mich mit ihr traf, um Erinnernswertes aufzuschreiben und zu erhalten.

Und dann berichtet sie, wie sie wurde, was Mitbürger ihrer Heimatstadt zuweilen als "den Engel von Groitzsch" bezeichnen. Zwei ledige Schwestern der Gemeinde, leibliche Schwestern, die zum "Stamm" der Gemeinde gehörten, baten sie, da sie älter und gebrechlicher geworden waren, um Hilfeleistung und Pflege. Dreimal täglich fuhr sie zu ihnen, bis 1973 eine von ihnen verstarb. "Da Lisel (die überlebende Schwester) vollkommen erschöpft war, nahm ich sie gleich mit zu uns.

Der Familienrat beschloß, sie dazubehalten. 1985 erlitt sie im Krankenhaus Schenkelhalsbruch, und später zersplitterte bei einem Sturz der rechte Ellenbogen. Sie sollte in's Pflege-heim. Ich bat um Kraft und schaffte es..." Schwester Graf war bis zu ihrem Tode ca. 15 Jahre bei Geschwister Ritter, auch über die schwere Zeit, als Schwester Ritters Mann unerwartet starb.

Den nächsten Teil überschrieb Schwester Ritter so: Muttertag 1978 - Pfingstsonntag

"Großer Frauen wurde gedacht, und allen Müttern wurde Dank ausgesprochen. Eine wiedergabe schnitt mir in's Herz. Eine tapfere Mutter hatte elf Kindern das Leben geschenkt und sie alle zu tüchtigen Menschen im Evangelium erzogen. Wieder, wie so oft, kam mir am Abend der Gedanke: 'Du hast, deine Aufgabe als Partnerin des Herrn nur zweimal erfüllt.' Zwar rieten die Ärzte wegen des Rhesusfaktors ab, (das dritte Kind würde sicher geistesgestört). Ich wollte Gott nicht versuchen. Jedenfalls bat ich den Herrn, nachdem ich ja schon mit meinem Mann wenn ich wieder einmal geführt werde, wo ein darüber gesprochen hatte, daß ich, nach Leipzig fahre, in ein Kinderheim Kind zu mir 'Mutti' sagt Dann betete ich spontan: 'Oder willst du, Herr, daß ich Geschwister Liebing versorge? Wie du willst, o Herr!' beendete ich mein Gebet."

Bei den Schwestern Liebing handelte es sich um Mutter und Tochter. Letztere war stark gehbehindert, und die Mutter war bereits 87 Jahre alt. Geschwister Ritter hatten ihnen bereits jährlich mehrere Wochen Urlaubsaufenthalt gewährt. An diesem Pfingsttag waren sie wieder zu Besuch.

"Ich legte mich zum Schlafen nieder. Da hörte ich plötzlich einen Schrei im Schlafzimmer. 'Renate, hilf, meine Mutter liegt auf dem Fußboden; ich kann sie nicht aufheben.' Ja, sie hatte plötzlich einen Schlaganfall und sollte in ein Pflegeheim. Doch der Familienrat beschloß, sie dazübehalten. Noch drei Jahre konnten Mutter und Tochter bei mir gemeinsam verbringen, bis zum 90-ten Geburtstag, den die liebe Mutter nur noch schlafend verlebte.

Um ein drittes und viertes Kindlein hatten wir gebeten doch der himmlische Vater sandte uns hilflose, gehrechliche und gerahmte Menschen in's Haus. Wir lernten, uns seinem Willen zu beugen, lernten Nächstenliebe und Opferbereitschaft.

Wodurch konnten wir dies alles als Familieneinheit meistern? Jeder Fall wurde im Familienheimabend besprochen, nach gemein-samem Gebet um besondere Erkenntnis und Weisheit für diese schwere Aufgabe, fremde Menschen, aber liebe Geschwister für eine ungewisse, lange Zeit aufzunehmen. Wir mußten Zimmer räumen, Zeit für andere haben. Wir waren plötzlich nicht mehr nur wir im Haus, sollten für andere sorgen, sie achten, ihnen helfen, sie lieben, wie wir uns als Familienangehörige liebten und uns verstanden."

Problem? - Nein, Gelegenheit zum Dienen!!