
Er saß mir gegenüber - in seinem kleinen Appartment im Wohnhaus auf dem Tempelplatz in Freiberg. Herbert Schreiter, seit Mai 1986 gemeinsam mit seiner zweiten Frau Dorle für 18 Monate auf eine Tempelmission berufen.
Tempelmissionar - das war er noch nicht. Aber sonst; gibt es wohl kaum eine Berufung, die er irr seinen 77 Jahren nicht schon erfüllt hätte. Nicht einmal die eines Missionars. Denn das ist seine vierte (!) Vollzeitmission. Im Gespräch fallen Tätigkeiten wie:
Wie wird man ein solches "Denkmal des Glaubens", an dem sich so viele aufgerichtet haben und orientieren können? Voraussetzung waren sein starker Glaube und die große Hingabe, Gott zu dienen.
Der Herr hatte mit ihm Besonderes vor. So verwundert es nicht, daß er seine Hand über ihm hatte, wie Bruder Schreiter oft spürte. Das Folgende berichtet er selbst "Das Erlebnis spielte sich auf dem Hof der Firma Hoffmann und Aurich ab, wo ich das SchlosserhandwerK erlernte. Fleischerei-Maschinen-Fabrik in Chemnitz, Wettiner Straße 35.
Ein anderer Lehrling und ich bedienten einen handbetriebenen Aufzug. Es wurden Maschinen vom ersten Stockwerk von der Montagehalle in den zweiten Stock in die Lackiererei transportiert. Herr Hoffmann und der Meister beaufsichtigten das Geschehen. Wir beide drehten die Lasten, jeder an einer großen Kurbel, hinauf. Beim Abnehmen einer solchen Maschine passierte es nun, daß der eiserne Doppelhaken, an dem die Last angeseilt war, sich löste und herunter in den Hof fiel. Ich stand aber so unglücklich, daß dieser schwere Haken unmittelbar hinter meinem Kopf auf das Pflaster sprang. Die Untenstehenden schrien schon erschrocken auf, und ich spürte den Windstoß am Hinterkopf. Wie durch ein Wunder blieb ich mit der Hilfe des Herrn unverletzt. Meine Zeit war noch nicht gekommen, und ich dankte meinem himmlischen Vater für diese göttliche Bewahrung. Auch allen anderen fiel ein schwerer Stein vom Herzen.
Und sonderbar, am nächsten Tag kam eine Brief von meinem Onkel aus Großolbersdorf, dem ich sehr verbunden war. Er betrachtete mich nämlich wie Seinen eigenen Sohn, nachdem ich für zwei Jahre bei ihm in Kost und Logie war. Er war auch mein Vormund, weil unser Vater 1916 in Frankreich im Felde gefallen war. Der Onkel fragte besorgt in diesem Brief an, ob mir etwas passiert sei. Er habe einen bösen Traum gehabt. Ich hätte auf den Bahngleisen gelegen, und nur wenige Zentimeter vor mir sei eine Lokomotive erst zum Stehen gebracht worden.
Ich betrachtete diesen Vorgang als eine göttliche Führung unseres himmlischen Vaters und bezeuge dies im Namen Jesu Christi - Amen.
Dies geschah im Jahre 1926 in Chemnitz, als ich 16 Jahre alt war."
"Als 19-jähriger folgte ich dem Ruf auf Mission. Im Jahre 1929, der Zeit der Arbeitslosigkeit, gab ich damit einen sicheren Arbeitsplatz auf mit der Aussicht, später vielleicht keinen wieder zu bekommen."
Und das bewahrheitete sich auch, als Bruder Schreiter nach 25 Monaten zurückkehrte, denn er war arbeitslos und mußte als Zeitungsausträger das Nötigste verdienen. Dennoch wollte er diese zwei Jahre nicht missen, die, wie sich in der Folge erwies, sein Leben entscheidend beeinflußten.
Dabei hatte er Höhen und Tiefen der Mission erlebt. In Stolp (im ehemaligen Pommern) warnte der Superintendent öffentlich: "Die Hormonen kommen" und bezahlte lieber die Miete für den Gasthof selbst, um die Missionare dort am Predigen zu hindern. Dennoch hatten sie Erfolg. Aus dem Nachbardorf Wobeste kamen ca. 40 Mitglieder im Dunkeln mit Sturmlaternen, um die missionare zu hören.
In Küstrin (Pommern) gab es 10 FHV-Mitglieder. Zum Handarbeits-Basar waren aber ca. 130 Freunde anwesend.
Bruder Schreiter berichtete, daß bei einem Taufgottesdienst Sogar Journalisten offiziell anwesend waren.
Diese Höhen und Tiefen damaliger Missionarsarbeit prägten entscheidend den jungen Missionar für seine späteren Lebens-jahrzehnte. Dankbar erinnert er sich der materiellen Unterstützung durch Mutter und Schwestern in dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit.
Ab 1937 bis zur Einberufung in die Wehrmacht 1941 leitete er die Chemnitzer Gemeinde mit mehr als 500 Mitgliedern, was Freuden und Mühen brachte. Auch persönlich und familiär hatte er mit Problemen zu kämpfen. Eigene Erkrankungen sowie eine lebensbedrohende Krankheit seiner Frau und die schrecklichen Kriegserlebnisse prüften ihn, machten ihn jedoch gleichzeitig reif für das, was der Herr unmittelbar nach Kriegsende vorgesehen hatte.
Pfingsten 1946 - eine Missionskonferenz findet in der Kongreß halle in Leipzig statt. Unter den Tausenden, die diese erste große Versammlung der Heiligen nach dem Krieg besuchen konnten, wer auch Herbert Schreiter aus Chemnitz.
Was am Rande der Konferenz geschah - und sein Leben veränderte, beschrieb er in seinem Tagebuch wie folgt:
"Nach der Samstagabendversammlung, die der GFV gewidmet war, rief mich Bruder Richard Ranglack zu sich und fragte mich, ob ich bereit wäre, auf Mission zu gehen. So überraschend mir dies auch kam - nachdem mir Bruder Ranglack gesagt hatte, daß noch keine Familie umgekommen wäre, deren Oberhaupt für den Herrn gearbeitet habe, und auf seine Frage hin, was wichtiger sei: als Schlosser zu arbeiten oder für den Herrn zu Wirken, gab es für mich nur eine Antwort: 'Jawohl, ich bin bereit und freue mich über dieses große Vorrecht.'
Dabei fühlte ich die ganze Last dieser großen Verantwortung auf mir ruhen, genau wie ich sie vor siebzehn Jahren bei meiner ersten Berufung fühlte, als ich am 4. November 1929 vom Diakon zum Ältesten ordiniert und als Missionar ins Missionsfeld gesandt wurde. Bruder Ranglack antwortete mir darauf: 'Ich berufe Sie hiermit auf Mission, bringen Sie alle Angelegenheiten gemeinsam mit Ihrer Familie in Ordnung und öffnen Sie Ihren Mund, um die Wahrheit des Evangeliums zu verkündigen.'
Es galt, das vorhandene Holz zu hacken und manches in Ordnung zu bringen, Wege zu erledigen und dergleichen mehr. Überrascht war ich, daß meine Mutter die Nachricht von meiner Berufung auf Mission ziemlich gefaßt aufnahm - besonders wegen ihrer Sorgen um Lisbeths gesundheitlichen Zustand und unserer geringen finanziellen Mittel...
Lisbeth machte mir den Vorschlag, meine Mission am 26. März, an meinem Geburtstag, zu beginnen, was Bruder Ranglack auch erlaubte…
19. März 1946: Fahre mit Hans Schumann hamstern... Mit Handwagen von Mutter fuhr ich dann nach Hause, wo ich gegen 22.00 Uhr ankam. (80 Pfund Kartoffeln, 10 Pfund Weizen, 2 Pfund Erbsen).
Der Rest der Woche: Gartenarbeit, Zahnarzt, Besuche, Schuhe reparieren für Lisbeth und die Kinder.
Sonntag, 24. März 1946: Besuche letztmalig die Sonntagsschule, Abschiedsworte gehalten, Schlußlied: 'Wir bringen dir, o Bruder hier...'. Sitze neben meiner Mutter. Nach der Sonntagsschule erhielt ich von den Besuchern den hohen Betrag von RM 130, - (Schloßgemeinde).
Nachmittag in der Predigtversammlung der Chemnitz-Zentrumsge-meinde werde ich verabschiedet. Abschiedsgedicht von Schwester Ilse Böttcher, Lob- und Dankesworte von Bruder Alexander Franke. Geldspende von den Versammlungsbesuchern von RM 260, - . Montag, 25. März 1946: Letzte Erledigungen, Lichtrechnunq, Besuche, Vulkanisieranstalt - Fahrraddecken. Während Lisbeth meine Sachen in Ordnung bringt, repariere ich noch Schuhe für die Kinder und packe die Koffer - spät ins Bett - Irene weinte, als sie Gute Nacht sagte.
26. März 1946: Lisbeth kocht mir die Abschiedsmorgensuppe. Dann bringt sie mich zur Bahn. Freue mich, daß Lisbeth so tapfer und guter Dinge ist. Sie spricht, auf den Kinderwagen deutend, der einen Teil meines Gepäcks trägt: 'In diesem Wagen habe ich mein ganzes Glück gefahren, und heute bringe ich dich damit auf Mission."
Innerhalb dieser Mission wird Bruder Schreiter am 3. April 1946 nach Bernburg versetzt. Dort organisiert er unter anderem eine Sonderversammlung, die meine Mutter und meine Großeltern besuchen. Dies war der Anlaß der Bekehrung meiner Familie, die durch die Kriegswirren aus Schlesien hierher verschlagen worden war und viel Leid zu erdulden hatte.
Nach dieser Mission steht er Leipzig - Distrikt und Gemeinde - zur Verfügung. Dabei ist sein geistiger Einfluß in vielen Berufungen nicht wegzudenken.
Als Gemeindepräsident erlebte er am Heiligabend 1968 wohl die tiefste Enttäuschung, als ihm von den städtischen Behörden mitgeteilt wurde, daß das neu eingerichtete Gemeindehaus den Mitgliedern nie mehr zur Verfügung stehen würde.
Was war geschehen? Wegen Abrißarbeiten mußte die Gemeinde aus einem Haus ziehen, das sie viele Jahre nach dem Krieg genutzt hatte. Ein Teil war eigentlich eine Kriegsruine gewesen. Nach vielen Schwierigkeiten hatte man ein ganz verwahrlostes altes Lichtspieltheater angeboten bekommen. In monatelanger Arbeit, in der Bruder Schreiter als Gemeinde-präsident Regie geführt hatte, war daraus ein ansprechendes Heim für die Mitglieder geworden. Kurz nach der schönen Einweihung wurde es wegen angeblicher Nichtbeachtung baupoli-zeilicher Vorschriften gesperrt und sollte nun nie mehr genutzt werden.
Wie verkraftet man als Führer eine solche Enttäuschung am Heiligabend? Wie hält man die Gemeinde zusammen, ohne daß sie zerbricht? Unter Bruder Schreiters Führung gelang es, die Geschwister zusammenzuhalten und letztlich die erneute Nutzung des Hauses zu erwirken. Es ist schwer erklärbar, welch geistiger Kraft es bedurfte.
1978 erhielt Bruder Schreiter eine neue Berufung, sein dritter Missionsruf. Diesmal mit. seiner Frau und im Leipziger Gebiet. Wie alle seine Berufungen nahm er auch diese ernst. Sieben Erwachsene und ein Kind wurden durch seine und die Arbeit seiner Frau bekehrt.
Viele gute Erfahrungen gewann er gemeinsam mit seiner Frau Schmerzlich war deshalb ihr Verlust durch den Tod im Dezember 1983
1984 heiratete er seine bisherige Schwagerin und wurde 1985 bei der Tempeleinweihung als Siegler im Tempel und Tempel-arbeiter durch Präsident Hinckley berufen.
Eigentlich verwundert es nach so einem erfüllten Leben im Werke das Herrn gar nicht, daß er mit seiner Frau 1986 bereit war, seine vierte Mission, diesmal im Tempel, zu erfüllen, denn für ihn gilt wohl der Ausspruch "Einmal Missionar immer Missionar" ganz besonders.
Bliebe nur noch zu ergänzen, daß er die Mission inzwischen ehrenvoll erfüllte, Präsident Monson ihn als Ratgeber in der Tempelpräsidentschaft berief und er im Pfahl noch als Geschichtsschreiber tätig ist.
Welch ein erfülltes Leben - im Dienste des Herrn!
Wenn jemals die Frage entsteht, wodurch die Kirche nach dem Krieg im östlichen Teil Deutschlands bestehen und sich entwickeln konnte, wieso glaubenstreue Mitglieder und aktive Jugendliche aufwachsen konnten, obwohl der Kontakt zum Haupt sitz der Kirche sehr locker sein mußte, gibt es die treffende Antwort - durch solche Führer!